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Zuschauerkritik - Aus der Mitte der Gesellschaft
Eine Inszenierung von Tobias M. Walter
Was eigentlich ist die Mitte? - „In der Mitte liegt die Kraft“ – so behauptete es die CDU zwei Tage vor der Bundestagswahl in einer großen überregionalen Zeitung mit ganzseitiger Annonce. Das Auge, die Mitte eines Hurrikans hingegen ist das Zentrum der Ruhe, rings herum erst ballt sich die verheerende Wirkung seiner Sturmkraft.
Was also ist denn nun die Mitte? Und was quillt aus diesem Zentrum heraus?
Marc Becker, Jahrgang 1969, Autor und Regisseur, ausgezeichnet mit etlichen Preisen für seine Stücke und Inszenierungen, entwarf als Antwort ein kabarettistisches Kaleidoskop, das Regisseur Tobias M. Walter mit viel Tempo, Wut und Witz in die Studiobühne gebracht hat. Sprachlich rasant aufeinanderfolgende Bilder, Eindrücke, Gedankengänge, Dialoge zwischen Einzelnen und dem Chor, im antiken Theater die Stimme von Vernunft und Moral, hier mitunter auch der gemeinschaftlichen Blödheit.
Ja, sie scheinen allesamt blöd zu sein; nicht im Sinne von minderbegabt, sondern im Sinne von eng, fantasie- und kraftlos, von angepasst - mit unter auch an die jeweils neueste Modellversion ihres Handys - und ohne jede Inspiration oder analytischen Fähigkeiten, zumindest, was die eigenen Kompetenzen und den Handlungsrahmen betrifft. In der Analyse gesellschaftspolitischer Defizite wagt sich der Eine oder die Andere durchaus mal aufs glatte Eis der Erkenntnisse. Aber kaum ist ein erhellender Gedanke kurz ausgesprochen, schon zurrte die Leine des Mutlosen, Kraftlosen und Trägen ihn zurück. Alles bleibt Durchschnitt. Und damit steigt das Stück ins Drama der Unentschlossenheit ein: Mit dem trägen Blasen in fast leere Bierflaschen, einem trüben Fanal in ein Leben, das weder vital noch leidenschaftlich zu sein scheint. Und dann zählen die jungen Menschen auf, wie sehr der Durchschnitt sie und die Ihrigen kennzeichnet. Durchschnitt heißt normal sein, heißt gesund sein – ist eine Art Ehrensache. Probleme: „Ach nö…“ sagen sie. Man nimmt einfach alles hin, hat Nachdenken und Mitleid abgestellt. Müll, Abgase, Plastik – jeder hat schließlich so seine Schwächen. Diese Erkenntnis muss reichen. Fatalisten sind sie, alles ist scheißegal. Und wenn man sich tatsächlich zu einer klitzekleinen eigenen Meinung und einem Hauch von Auflehnung durchringen könnte, dann kommt grad einer daher, der sie rasend schnell platt macht mit dem Argument: alles vergeblich, man kann doch nichts machen, alles wird immer schlimmer und sowieso – auch ja…. Zwischendurch die mal für einen Moment hoffnungsvoll aufflackernde Kurzzeit-Suche nach Perspektiven im Leben dieser Schlaffis: sie laufen wild und unorganisiert herum, schauen in allen möglichen Ecken nach (unter den rotplüschigen Sitzreihen, hinter dem Vorhang, in der Techniknische des Theaterraums) – der Blindenstock hingegen nimmt das Ergebnis wortlos vorweg: Perspektiven gibt es für sie nicht, und sollten sie je dagewesen sein, dann sind sie gerade jetzt ausverkauft. Aber wenn es schon keine Perspektiven gibt, warum dann nicht mal kurz die Sehnsucht nach einer Diktatur rausbrabbeln? „Dann weiß man wenigstens, wo es langgeht. Was ist die eigene Meinung schon wert? Ich wär sie gerne los. Sie nutzt mir nichts.“
Und so geht es wabernd weiter. Im Konjunktiv: man könnte, sollte, müsste….Kleine Versuche im Indikativ (können, sollen, müssen und werden) werden regelmäßig entkräftet. Sollte sich der Verstand dennoch anschicken, mal eigene Wege gehen zu wollen, dann verliert er letztendlich seine Orientierung in den grauen Nebeln (Nebelmaschine!) dieser kleinmütigen Leben.
Als „Sprachkonzert“ hat der Autor das Stück konzipiert – der Chor trägt weite Strecken der Inszenierung. Die sieben Absolventen der Schauspielschule agieren allesamt gleichberechtigt, sie konkurrieren nicht um Hauptrollen, sind einander ebenbürtig auf hohem Niveau. Und die Hauptfeindin jedes Feuilletons, Helene Fischer, singt als Pappfigur mit gefälligem Fotogesicht hinein ins Mittelmaß, begleitet diese „Monster in der eigenen Geisterbahn“.
Und der Zuschauer, die Zuschauerin? Denkt: wie gut, dass ich ganz anders bin. Oder: ja, man müsste tatsächlich mal was ändern…